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Zugezogen Maskulin + Mariybu | Freitag 20/05 2022 20.00 h Bielefeld, Stereo
| vvk: 28,20 € abk: 30,00 € |
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Verlegt vom 9. Mai 2021 auf den 2. September 2021, jetzt auf den 20. Mai 2022. Bisher gekaufte Karten behalten ihre Gültigkeit. Zwei junge Männer verlassen ein ehemaliges Reichsbahn-Gebäude, in dem sich nach der Wende Musikstudios eingenistet haben. Keine Highclass-Studios, wie die beiden sie im Rahmen ihres Praktikums kennengelernt haben, wenn Interviews anstehen und sich Rapper vor ihnen in tiefen Ledersesseln aalen, von ihren Alben erzählen, von den anstehenden Touren, vom Erfolg – und die beiden jungen Männer zuhören und nicken – mit einem Aufnahmegerät in der Hand.
Jedenfalls sieht es danach aus, im Kopf läuft jedoch was ganz anderes ab, sie wollen selber im tiefen Ledersessel sitzen, vor einem dankbaren Publikum, denn trotz aller Versicherungen sich selbst oder ihrem Chef gegenüber: Eigentlich wollen die beiden selber Rapper sein.
Oder noch besser: Rapstars.
Und vielleicht kommen sie jetzt diesem Ziel näher, denn heute, in diesem kleinen, etwas heruntergekommenen Studio, ist ihre erste gemeinsame Platte fertig geworden. Der Titel, eine Mischung aus Selbstbewusstsein und Provinz-Komplex. Aber er verfängt gut, mal gucken, was man noch damit anfängt, mit diesem schrägen Namen, mit ZUGEZOGEN MASKULIN.
Passt ja auch, 2010 ist ein schräges Jahr, neues Jahrzehnt, neue Superlative, die wahrscheinlich so nicht mehr zu überbieten sind: Die Schweinegrippe besorgt die Menschen, ein Vulkan sorgt dafür, dass in manchen Teilen Europas kein Flugzeug startet und ein SPD-Politiker sorgt mit seinem Buch für einen, vorher undenkbaren, Rechtsruck – wenigstens hat man schon länger nicht mehr von den Dönermorden gehört.
Was beide zu diesem Punkt nicht wissen, nur hoffen: Die Rapstarträume werden sich erfüllen. Es wird rauschhaft, Anerkennung, dieses bohrende Verlangen nach Anerkennung, Geld, Ruhm, all das gibt es bald – aber der Kater wird gigantisch.
Und was die beiden nicht wissen können, aber ahnen: Dieses schräge Jahrzehnt wird noch schriller und seltsamer, mit Verwerfungen, an die man sich im Sommer des Jahres 2020 gewöhnt hat, die bei Bandgründung noch unvorstellbar sind: es werden 10 JAHRE ABFUCK.
Und so berichten Zugezogen Maskulin auf 10 JAHRE ABFUCK von der Ankunft aus der deutschen Provinz in Berlin, „geblendet von den Lichtern, fühlte mich wie Ivan Drago“ und davon, wie man bei „Rap.de“ Menschen interviewt, die einige Jahre später anderen Menschen in Syrien den Kopf abschneiden werden. GRIM104 und TESTO erzählen vom trüben Weg hin zum Erfolg, als „ZM auf dem Normiefest“ spielten, vor Typen mit Deutschlandhut und mit DJ Ötzi als Kontrastprogramm.
Blicken auf Männer und einengende Männlichkeitskonzeptionen, wenn im Hort aus „zwei Decken und zwei Stühlen“ eine „Liebeshöhle“ wird, in der ein Spielkamerad Küsse auf den Bauch verteilt – und blicken auf Frauen, aus den Augen eines Incel-Raubtiers, dessen Geilheit kein Ventil gesetzt ist und aus den Augen des feministischen Posterboys, dem ein „The Future is female“ genauso schnell von den Lippen geht, wie der bedrohlich-aufdringliche Anruf nachts um 3.
Huldigen „König Alkohol“, der zwar „alles zerstört, alles kaputt um mich rum“, aber dessen Zauberkraft auch für Abenteuer und Legendenbildung sorgt. Dann, langsam kommt er, „Der Erfolg“, erkennt man, dass man ein „Traumprinz wie Dieter Bohlen“ ist und wenn es nicht klappt mit den Girls, scheiss drauf „wieviel Klicks hat denn dein Neuer, wenn ich fragen darf?“ Lachen irre beim „Tanz auf dem Vulkan“, gegen das bedrohliche Brodeln der Lava aus NSU, AFD, aus Nordkreuz und VS.
Und landen in der Gegenwart, wenn man begreift, dass Musik machen und Musik verkaufen eventuell zusammen gehören, wenn man gemeinsam mit AHZUMJOT seine Fans zum Kauf der Deluxe-Box einschwört, „ich liebe euch so sehr, ihr dämlichen Viecher“. Wenn die Bühnen groß und größer werden, man unter den irritierten Blicken von Angela Merkel und 40.000 schockierten Zuschauern ein Feiertagsprogramm mit ZM-Klassikern wie „Endlich Wieder Krieg“ bestreitet, „Auftritt Brandenburger Tor, ausgebuht/ aber gut bezahlt – fühlt sich geil an.“
Und wenn man vielleicht langsam müde wird und hofft, dass der Sommer langsam vorbeigeht, wenn man sich wünscht, dass der schwere Goldschmuck endlich dafür sorgt, dass man still und heimlich beim Baden ertränkt wird. Und dass, wenn einem solche Gedanken kommen, vielleicht an der Zeit ist zu gehen. Zeit für einen „EXIT“
Das dieser rauschhafte Rückblick trotzdem so zeitgeistig, weltläufig und aktuell klingt, ist vor allem AHZUMJOT zu verdanken, der als Executive Producer auf 10 JAHRE ABFUCK gearbeitet hat. Der 30-Jährige Hamburger hat der Platte ein minimalistisches und elegantes Soundbild entworfen, in den Produktionen wurde jeder unnötige Pomp abgestoßen, kein Geigen-und-Piano-Pathos, sondern finstere Bass Music und zerhackte, zerschnittene Samples die ineinander gewirbelt werden.
Immer wieder tauchen Soundreferenzen auf obskure Youtube-Schnipsel auf, von „Kai der Brecher“ bis hin zu „Pufferfish eating carrots“. Gespräche aus dem Studio werden mitgeschnitten, kleine Hörspiele mit prominenten Gastsprechern in den Songs versteckt. Denn bei aller Modernität, es klingt nie glatt, nie beliebig, immer werden Kanten und Brüche in die Songs eingebaut. Diese Weirdness blitzt immer wieder auf den Produktionen von SILKERSOFT auf, der neben AHZUMJOT für die Beats auf dem dritten Studio-Album von Zugezogen Maskulin verantwortlich ist.
Und so ist 10 JAHRE ABFUCK Rückschau und Aufbruch zugleich: In einen eleganten und hypermodernen Sound eingepackt, schreiben GRIM104 und TESTO über längst verblasste Anfänge, wühlen im Morast zwischen der Kindheit und ersten Gehversuchen auf Bühnen, Beziehungen und Selbstbehauptungen. Und blicken gleichzeitig in eine Zukunft, die alles sein kann: Hamsterrad oder Emanzipation, strahlende Zukunft oder, hoffen wir es nicht, 10 JAHRE ABFUCK.
Macker kriegen Schiss, wenn Mariybu das Mic auspackt. Mit starker Meinung,
queerfeministischen Inhalten und einer kräftigen Stimme trifft sie toxische und
sexistische Dynamiken, genau da, wo es weh tun soll. Gleichzeitig beweist die
Wahl-Hamburgerin, dass es im Kampf gegen Patriarchat und Machtgefälle auch Zeit
für Pausen, Emotionalität und Verletzlichkeit braucht – so bereichert sie die
Rap-Szene mit Vielschichtigkeit und verdammt gutem Rap. 2021 signte sie
außerdem bei dem All Female Rap-Label 365XX, das von PIAS Germany und Lina
Burghausen ins Leben gerufen wurde.
Aus der niedersächsischen Provinz verschlug es Mariybu 2014 nach Hamburg. Schon
in ihrer Kindheit und Jugend tobte sie sich an verschiedenen Instrumenten aus,
performte Songs mit ihren Schwestern und trainierte ihre Stimme im Schulchor.
HipHop wurde ihr schon früh in die Wiege gelegt: so schlief sie als Kind zu den
Reimen von TicTacToe ein. Das Herz für die Szene wuchs jedoch erst viel später. Zu
eigenen Lines ließ sie sich von anderen FLINTA-Rapper*innen inspirieren:
„Angefangen hat alles mit dem 365Female* MCs Blog in Verbindung mit Finnas
Konzert im Februar 2018. Bis dahin kannte ich kaum geile Rapper*innen und
plötzlich hatte ich so viele empowernende Vorbilder, durch die ich richtig tief in
HipHop reingerutscht bin.“ Daraufhin entwickelte sie sich in kürzester Zeit zu einer
technisch, lyrisch und inhaltlich starken MC.
DIY, aber niemals allein. Mariybu brachte sich alles selbst bei – von Songstrukturen
und Texten bis Producing und Komposition beweist sie sich als virtuose
Autodidaktin. Rückhalt bekommt sie von ihrem Kollektiv Fe*male treasure,
bestehend aus Wikiriot, Finna, Joëlle, Rahsa, Captin Yolo, Queenwho und Saskia
Lavaux - ein von ihr mitbegründeter Safe Space, in dem sie bis heute volle
Unterstützung und Zusammenhalt erfährt. 2020 veröffentlichte sie ihre erste Single
„PMS“ – eine Monats-Hymne für alle Menschen, die den Struggle mit Zyklus,
Krämpfen und Stimmungsschwankungen kennen. Kurz darauf erschien Mariybus
Debüt-EP „Depression“, auf der sie mit fünf starken und persönlichen Songs die
Bandbreite ihres Talents offenbart.
Schon beim Schreiben schießen der Rapperin Melodien und Kompositionen durch
den Kopf, welche sie im Aufnahme- und Producingprozess zu einem perfekt
proportionierten Klangkörper gestaltet. Auch inhaltlich ist alles Made by Mariybu:
Authentisch und persönlich referiert sie direkt aus ihrem Leben, lässt tiefste
Gedanken und Ängste zu und spricht ihre Wut und Verständnislosigkeit direkt aus.
„Die Emotionen, die am stärksten sind, verarbeite ich auch in meinen Texten“,
beschreibt sie den Prozess ihrer Ideenfindung. So funktioniert Musik auch wie
Therapie; ein verarbeiteter Gedanke gibt die Möglichkeit, noch einmal von außen
betrachtet zu werden. Ihr persönlicher und authentischer Stil lässt sie besonders
nahbar erscheinen. Vor allem FLINTA*-Personen möchte sie mit ihren Worten
erreichen und empowern - um verstanden zu werden, aber auch, um zu verstehen.
Auch live begeistert die Hamburger MC ihre Fans und bringt das Publikum zum
kollektiven Ausrasten. So bewies sie ihr Performance-Talent 2021 bei jeder sich
bietenden Gelegenheit - ob auf großen Bühnen wie dem Dockville Festival sowie als
Support-Act für Rapperin Nura oder auf kleineren Konzerten wie auf dem CSD in
Bad Kreuznach. Aber das war nicht alles, was das Jahr 2021 für die talentierte
Künstlerin bereit hielt. Neben unzähligen Live-Auftritten signte Mariybu außerdem
bei dem All Female Rap-Label 365XX, gewann den Hamburger Musikpreis
KRACH+GETÖSE und releaste eine EP. Sie wirkte auch bei der SRF Doku-Serie
“Enter the Circle” mit und übernahm die Produktion und künstlerische Leitung eines
Kollabo-Songs mit sechs Schweizer Rapperinnen (diese Information bitte vertraulich
behandeln, da noch nicht veröffentlicht). Auch wenn sich die Frage stellt, wie groß
der Hut sein muss, in dem die Rapperin all das unterkriegt, mangelt es bei keinem
ihrer Projekte an Qualität, Leidenschaft oder musikalischem Niveau.
Ihre EP "BITCHTALK" erschien am 3. September, wurde komplett von Mariybu
selbst produziert. und gibt auf fünf starken wie unterschiedlichen Tracks einen
facettenreichen Einblick in ihre Gefühlswelt. Ob sie wie auf "Toxic" vernichtende
Punchlines an übergriffige Macker verteilt oder sich auf "Alles Gut" den
Herzschmerz einer Trennung von der Seele rappt: Mariybu ist und bleibt eine "Loyal
Bitch". So zeigt sie sich in ihren Musikvideos auch gerne mal mit ihrem Kollektiv
Fe*Male Treasure - wie zum Beispiel bei "Intro".
Mariybu weiß mit wenigen Worten große Ansagen zu machen und schafft es, auf
ihren Songs gleichermaßen Verletzlichkeit zuzulassen sowie maximal empowernd zu
sein - für sich selbst und für Andere. Die Newcomerin gibt sich nicht nur emotional
und ehrlich, auch ihre technischen Skills bewegen sich auf einem hohen Level. Sei es
mit reduzierten Lyrics oder mit ihren Doubletime-Parts, Mariybu trifft stets ins
Schwarze. Auf ihrem aktuellen Release findet sie für jede Gelegenheit die richtigen
Worte, wenn sie deepe Gefühle offenbart oder lautstark Fronts an das Patriarchat
verteilt. Das Debüt-Album der Künstlerin ist für 2022 geplant
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