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Achim Reichel | Donnerstag 23/04 2015 20.00 h Bielefeld, Ringlokschuppen
| vvk: 39,65 € abk: 40,00 € |
Nach 100 Konzerten als „Storyteller“, der erfolgreichsten Tournee
seiner Karriere, und 15 Jahre nach seinem letzten Studioalbum mit
eigenen Texten („Entspann Dich“) erfüllt Achim Reichel seinen Fans
den vielgeäußerten Wunsch nach einem Album mit neuen Pop-
Songs, das nun unter dem Titel „Raureif“ veröffentlicht wird.
In einer selbstgewählten Auszeit rund um seinen 70. Geburtstag,
Anfang 2014, umging Reichel die Feierlichkeiten und nutzte die
Gelegenheit, in mediterranem Umfeld an neuen Songs zu arbeiten
und wartet dabei wieder mit jeder Menge Überraschungen auf.
Auch auf seinem aktuellen, mittlerweile 24. Studioalbum beweist
Achim Reichel seinen unbändigen Drang, neue musikalische Tiefen
auszuloten. Die Rattles waren in den frühen Sechziger Jahren, in
den legendären Tagen des Star-Club, nach Tourneen mit den
Beatles und Rolling Stones, nicht nur in Deutschland, sondern auch
in Großbritannien, für den Hamburger Musiker erst der Anfang
seiner künstlerischen Reise. Über Beat, Psychedelic-Pop mit der
Band Wonderland („Moscow“) und elektronischen Solo-Ausflügen
(„Die grüne Reise“) gelangte er schließlich, in dem er sich auf die
deutsche Sprache bezog, zu einer eigenen künstlerischen
Ausdrucksform.
Schon zu einem frühen Zeitpunkt, Mitte der Siebziger Jahre, hat
Achim Reichel trotz Bedenken seiner Schallplattenfirma, vieler
Musikkritiker und wohlmeinender Freunde, auf „Dat Shanty Alb’m“
und „Klabautermann“ alte traditionelle Seemannslieder mit
Rockmusik verbunden, womit er einmal mehr seiner Zeit weit voraus
war. Eine gleichermaßen geniale als auch erfolgreiche Verbindung,
die ihn ermunterte, 1978 auf dem Album „Regenballade“ zum ersten
Mal mit ebenso großem Erfolg Texte deutscher Dichter, wie Goethe,
Heine, Möricke und Storm, zu verwenden. Später arbeitete er mit
den zeitgenössischen Poeten Jörg Fauser („Der Spieler“), Peter Paul
Zahl („Bessie kommt“) und Kiev Stingl („Cocosnußöl Reggae“) und
schließlich mit eigenen Texten.
Achim Reichel steht nach diesen gelungenen Arbeiten in besonderer
Weise für die Entwicklung einer einzigartigen deutschen Folk-
Variante, ohne dabei ausschließlich auf traditionelle Einflüsse und
Wurzeln zu setzen.
Waren es zuletzt überwiegend akustische Instrumente, mit denen er
alten Volksliedern ein neues Gesicht gab, sind nun, neben dem
üblichen Rockmusik-Instrumentarium, Bläsersätze, klassische
Streicher und Frauenchöre im Einsatz, die der Musik Reichels eine
ungemein spannende Atmosphäre verleihen. Latin-Flair trifft auf
irische Einflüsse, kalifornischer Sixties-Blues-Rock auf Akustik-Folk
und Laid-Back-Gitarren vermischen sich gekonnt mit karibischem
Reggae. Fast könnte man meinen, Achim Reichel schickt seine Fans
einmal rund um den Erdball. „Raureif“ erzählt Geschichten, die so nur das echte Leben schreiben
kann. Wenn Reichel sich z.B. in „Dolles Ding“, dem ersten Song
seines neuen Albums an eine Autofahrt erinnert, die ihn in einer
einsamen Nacht im Nirgendwo an eine rote Ampel führt, bleibt er
ganz in seiner eigenen Tradition, Alltagsbeobachtungen humorvoll,
aber stets nachdenklich umzusetzen. Er teilt mit seinen Hörern
„halluzinatorische“ Momente, geht mit einem alten Seebär in „Segel
der Erinnerung (Reise Reise)“ auf große Traum-Fahrt, leidet in „Der
Harte Schnelle Kleine“ mit einem überforderten Fußballstar und
erinnert in „Es geschah am helllichten Tag“ an die Banalität des
Menschseins in einer berauschenden Natur, um nur einige der
Songperlen herauszuheben.
Während der Vorbereitung zu seinem neuen Album fand Achim
Reichel einen alten Text des viel zu früh gestorbenen Schriftstellers
Jörg Fauser, mit dem er bereits in den frühen Achtziger Jahren mit
großem Erfolg zusammengearbeitet hatte („Der Spieler“). Das
Ergebnis heißt „Das Herz der Dinge“ und ist ein nachdenklicher,
lässig groovender Rocksong mit Twäng-Gitarrenlinien über den
unaufhaltsamen Fluss der Zeit.
Eine weitere Entdeckung war ein Text von Fritz Graßhoff, einem der
meistrezitierten deutschen Schriftsteller und Liedtexter (z.B. „Nimm
mich mit Kapitän, auf die Reise“ für Hans Albers), dessen
Seemannsfigur ‚Ole Pinelle’ Reichel in der Tradition seiner
Ringelnatz-Adaption „Kuddel Daddel Du“ als modernes Rock-Shanty,
diesmal aber mit Tex-Mex-Einflüssen, angelegt hat. Auch Kiev
Stingl, Begleiter aus früheren Tagen, taucht mit zwei großartigen
Texten, „Der Harte Schnelle Kleine“ und „Der Abschiedsbrief“,
wieder auf. Als letzter Titel des neuen Albums erzeugt das
hochpoetische „Der Abschiedsbrief“ mit einem Sample aus “La
Traviata“, gespielt vom Orchester des Bolshoi Theaters Moskau,
einen der eindringlichsten Momente in der Karriere von Achim
Reichel.
Auch der Titel der ersten Single „Marianna“ hat eine ganze eigene
Geschichte. Während der Vorbereitung zu seinem neuen Album
erinnerte sich Achim Reichel an die Titelmelodie eines englischen
Films mit dem Titel „Hear my song“, den er vor mehr als zwanzig
Jahren gesehen hatte und die ihn immer wieder beschäftigt hat. Der
Titelsong hatte seinen Ursprung in einem alten deutschen Tangolied
aus den 1930er Jahren, in dem wiederum Anleihen aus Giuseppe
Verdi’s „La Traviata“ verarbeitet worden waren. Achim Reichel hat
daraus unter dem Titel „Marianna“ einen ganz eigenen, von Tango
beeinflussten Song über eine zerbrochene Liebe erschaffen.
Letztendlich ist „Raureif“ ein typisches Achim Reichel-Album voller
verschiedener Stilrichtungen und kaleidoskopartiger musikalischer
Splitter, die mehr als 50 Jahre künstlerischer Erfahrungen
überzeugend zusammenfassen: Rau, gereift und doch ewig jung.
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