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Turbonegro | Samstag 01/12 2007 20.00 h Bielefeld, Ringlokschuppen
| vvk: 24,10 € |
Keine Band hat in den letzten zehn Jahren weltweit so viel Chaos und Verwüstung angerichtet wie diese 6 schrägen Vögel aus Norwegen. Allerorten sorgen sie mit ihren Blue-Denim-Outfits, Matrosenkostümen und pseudoschwulen Lyrics für Erstaunen und Konfusion. Sie vermengen Einflüsse aus dem ganzen Spektrum von Classic Rock über Punk bis Metal dermaßen erbarmungslos, um – so nennen sie es selbst – ihren musikalischen “Traum-Cocktail” zu mixen, dass sie ihre Fans damit ein ums andere Mal in den Wahnsinn treiben und sich manch anderer fragt, ob sie wirklich ihre Jam-Sessions auf die Menschheit loslassen müssen. Ist denn das wahrhaft Große auf immer verdammt, von der Masse missverstanden zu werden?
Diese Unsinnslogik wird von ‘RETOX’ ein für allemal weggeblasen. Das Album ist hart, heavy, ausgelassen, erschreckend, unflätig, dumpfbackig und besinnlich – alles zugleich. Es IST leibhaftiger Rock. Rock total. Turbonegro total. Eine Scheibe, die – in den Worten der aufrührerischen Lead-Off-Single ‘Do You Do You Dig Destruction’ – einen wie “ein Schlagring und ein Kantholz mitten ins Gesicht” trifft.
Ihren Anfang nahm die Turbonegro-Saga 1989 in Oslo. Zur Startbesetzung gehörten Happy-Tom – damals noch als Drummer – und die Gitarristen Pål Pot Pamparius und Rune Rebellion. Zunächst erwog man den Bandnamen “Nazipenis”. Stattdessen einigte man sich auf „Turbonegro“ und beschwor damit das Bild “eines großen, gut bestückten, bewaffneten männlichen Schwarzen in einem schnellen Auto“ herauf, „der auf Rache aus ist. Wir sind seine Propheten.” Beide Namen verrieten weder eine großartige Karrierestrategie noch den Gedanken an etwaige Welterfolge.
Nachdem sie 1992 mit ihrem Debüt ‘Hot Cars And Spent Contraceptives’ einen holprigen Start hingelegt hatte, stieß die Band an das Schwindel erregend hohe Limit der eigenen Erwartungen, als sie als Support-Band für die Ramones zum Einsatz kam. Bald darauf aber trieb sie mit Hank von Helvete (zu Deutsch „Hank aus der Hölle“) einen machtvollen neuen Sänger auf. Mit dem Album ‘Never Is Forever’ von 1994 prägten sie den Sound des ‘Deathpunk’, einer ultra-rotzfrechen, aufreizenden Weiterentwicklung der alten Formensprache. Gewidmet wurde das Album den Muso-Rockern Blue Oyster Cult – ein Stinkefinger gegen die Punk-Szene mit ihrer engstirnigen Lo-Fi-Ästhetik und gleichzeitig eine aufrechte Liebeserklärung an die Herrlichkeit des Rock.
Kurze Zeit später gab sich die Band als Gruppe “dräuender Schwuler, die laute Rockmusik spielen”. Sie setzten sich Matrosenmützen auf, zogen Truckerjacken und enge Jeans aus blauem Denim an (“dem einzigen Stoff, der jemals gezielt fürs Arschtreten konzipiert wurde”) und schminkten sich als Frauen. Das Album ‘Ass Cobra’ von 1996 enthielt die Songs ‘Sailor Man’, ‘Denim Demon’ (“I am a saint for semen”) und ‘I Got Erection’. Kaum zu glauben, dass sie einen Endorsement Deal mit Levi’s eingesackt haben – als Pappkameraden in Lebensgröße zierten die Turbonegro-Mitglieder Schaufenster in ganz Skandinavien.
Richtig in Tritt kam Turbonegro in seiner heutigen Form, als der “totalitäre Gitarrenhelden” Euroboy und Chris Summers, “die Rolex unter den Drummern”, auf den Plan traten und 1997 das Meisterwerk ‘Apocalypse Dudes’ herauskam. Damit die Neulinge untergebracht werden konnten, wechselte Happy-Tom, nunmehr mit Myra-Hindley-Frisur, zum Bass. Pål Pot Pamparius kehrte von einem Arbeitsaufenthalt als Betreiber einer eigenen Pizzeria im Osloer Vorort Kolbotn – die im Titel ‘The Age of Pamparius’ gefeiert wird – in einer multi-instrumentalen ‘Bez’-Funktion zurück.
Nachdem alle Bandmitglieder ihren technischen Scharfsinn bedeutend gesteigert haben, brachte Turbonegro jetzt alle Voraussetzungen mit, seine Vision “Punk meets 70s-Rock” zu ihrer logischen Vollendung zu führen. ‘Apocalypse Dudes’ klang wie ‘Tommy’, gespielt von The Damned, mit einem neuen Libretto von Jean Genet. Euroboys Gitarrensolos wurden von skandinavischen Punks bloß belächelt, aber die gewaltigen Riffs in ‘Get It On’ und ‘Prince of the Rodeo’ haben dafür gesorgt, dass die New Yorker Hipster-Bibel Grand Royal ‘…Dudes’ euphorisch zum “Rock & Roll-Album des Jahrzehnts” ausrief. Explosionsartig wurde die Band zur Kultband, als Leute wie Dave Grohl und Jello Biafra über die „Blauen Jungs“ aus Norwegen ins Schwärmen gerieten.
Anders als lahme Kult-Acts wie The Velvet Underground, die sich wieder formiert und dann schnell wieder in ihr Art House zurückgehuscht sind, haben die Turbonegro nachgelegt und ‘Scandinavian Leather’ (2003) gemacht – ein Album mit dichtem nordischem Metal-Sound und dazu passenden, vor Blut triefenden und ultrafinsteren Texten. Das makabre Coverdesign mit einem sich selbst verschlingenden Tier stammte von Klaus Voormann, der schon für die Beatles das Album ‘Revolver’ künstlerisch gestaltet hatte.
Los Angeles gab den geistigen Hintergrund für das nächste Album ‘Party Animals’ ab – eine Punk-Platte nach dem Motto "Back to Basics", inspiriert durch die Heldenbands Black Flag und Redd Kross, deren Leitfigur Steve McDonald man als Produzent nach Norwegen kommen ließ. Turbonegros Vorliebe für Pop-Harmonien (man denke an Cheap Trick) und Glam-Rock für leichtere, kalifornische Vibes in Juwelen wie ‘Blow Me (Like The Wind)’, ‘If You See Kaye’ und ‘Hot Stuff/Hot Shit’ – auch wenn das stampfende ‘City of Satan’ die Warnung enthielt, nicht der Formbarkeit von L.A. zum Opfer zu fallen.
Die Turbojugend hat heute überall in Europa und Amerika wie auch in Rio, Santiago und Brisbane Ortsverbände, die sich in Denim hüllen. Ein Mitglied hat sein ganzes Haus von außen mit Artwork-Motiven von Turbonegro bemalt. Die Hamburger Ortsgruppe hat es irgendwie geschafft, Turbonegro zur offiziellen Band des dortigen Fußball-“Piratenclubs” St. Pauli zu machen, während die texanische Turbojugend beim SXSW ’07 mit einer Post-Gig-Party für die Gruppe samt Auftritt einer Turbonegro-Tribute-Band aufwartete – so viel Ehre ward nicht einmal gehypten britischen Acts wie Amy Winehouse zuteil.
Die größten Fans der Band sind allerdings wohl Turbonegro selbst. Sie haben ein Monster geschaffen, das voll und ganz ihren eigenen Bauanleitungen entspricht, und lassen es mit ungeahntem Erfolg auf die Menschheit los. Es handelt sich, wie sie feststellen, um ein bemerkenswertes Untier, dem man sich auf vielen Ebenen nähern kann – als Meisterklasse in Sachen Punk-Rock-Geisteshaltung; eine regelrechte Orgie des abgedrehten Humors; als Entdeckungsreise ins Reich einer dunklen Philosophie der Selbstzerstörung; als durchschematisierte Performance à la AC/DC/Ramones/Slayer; als ritualisierte sexuelle Abweichung und natürlich als arschwackelnder Scheiß-Rock-’n’-Roll, wie es ihn kein zweites Mal gibt. Mag auch der eine oder andere humorlose Idiot in so viel Komplexität verschütt gehen – es gilt, um es nicht so sehr mit Baudrillard als vielmehr mit Sonic Youth zu sagen: Confusion is Sex, mein Süßer! Also denn… warum soll man jetzt noch was verändern, außer dem gewissen Quentchen Feintuning?
“Der springende Punkt bei Formula-Bands ist”, so meint Euroboy, “dass sie mit einer Grundidee loslegen, die Anklang findet. Und im Angesicht des Erfolgs versuchen sie dann, sich zu verändern oder weiterzuentwickeln. Wenn das nicht klappt, gehen sie zur Formula zurück und machen wieder ein Album nach dem anderen in der gleichen Machart. Wozu soll man sich mit dem Ausfallbit aufhalten?”
Als man im Februar 2006 wieder in Oslo zusammenkam, um mit ‘RETOX’ anzufangen, hatte Turbonegro sich vorgenommen, so Euroboy weiter, “das Druckvolle und die Energie unserer frühen Punk-Platten mit unserer reiferen Musikauffassung seit ‘Apocalypse Dudes’ zu kombinieren.“ Darum der Name ‘RETOX’.
Stand das letzte Album unter dem Motto „Back to Basics“, so ist ‘RETOX’ geradliniger und sinnfreier Boogie mit voller Kraft voraus. Beim Aufwärmen für die Aufnahmen groovte ein jeder zu ZZ Top und zum neuen Album der Eagles of Death Metal. Das Gebot der Stunde hieß Stupider Biker-Rock – und hey, so war es schon immer!
Jeder einzelne der 12 Songs, die den Cut überstanden haben, zählt zu den bisher heißesten Turbonegro-Nummern. ‘RETOX’ mit seinem vergnügt nihilistischen Auftakt ‘We’re Gonna Drop The Atom Bomb’ ist proppenvoll mit Outsider-Hymnen. Man erlebe den glatzköpfigen Loser, “der nach Perücken googelt” und nichtsdestotrotz heldenhaft weiterrockt (‘Hell Toupée’), und die bewegende Hommage an die Fettleibigen ‘Everybody Loves a Chubby Dude’ – “I am the lizard king, I can eat anything!” kreischt Hank da.
Der “Sound von kaltem Stahl, der sich durch heißes Leder schneidet” ist zum Teil das Werk von John Agnello, der das Hold-Steady-Album ‘Boys and Girls in America’ produziert und ‘RETOX’ mit der Band zusammen in New York abgemischt hat. Bei Titeln wie ‘Welcome To The Garbage Dump’ und ‘No, I’m Alpha Male’ klingen unsere nordischen Helden tatsächlich stählern – und tougher als je zuvor.
Das ist vor allem der Verdienst der sechsteiligen Riffmaschine, die aus allen Rohren feuert. Es gibt durchweg Griffe, die den Punk-/Rock-Kenner kitzeln werden – Hanks rechtschaffener, Johnny-Rotten-artiger Griff in ‘You Must Bleed/All Night Long’; das schnuckelige Kastagnettenrasseln nach der Zeile “Latino lovers” in ‘Do You Do You Dig Destruction’ (irgendjemandem UKW-freundliche Anarchie gefällig?). Turbonegro raffen so viel Musik zusammen: Alles ist in der einen oder anderen Weise eingebaut, aber es lässt das verdruckste Scheißgerede über Einflüsse weiter hinter sich. Alles ist Turbonegro-eigen geworden.
In einer Rock-Welt, in der es plötzlich vor schnell zusammengeschusterten Bands mit Retro-Frisuren wimmelt (die in zwei Jahren ihre Buchhalterausbildung wieder aufnehmen – garantiert!), verdienen Turbonegro für ihre tief wurzelnde Hingabe große Anerkennung.
In einem Klima, das weltweit von Angst, Fundamentalismus und Unterdrückung geprägt ist, erinnert ‘RETOX’ einen auch daran, dass Rock ‘n’ Roll dazu da ist, Spaß zu haben, witzig und befreit zu sein und die Folgen des eigenen Tuns zu vergessen.
Wenn Hank mitten in ‘What Is Rock?!’ im Namen der Band den Refrain “We saved rock & roll” anstimmt, dann ist das kein Scherz. Aus Sicht von Turbonegro ist der Zeitpunkt gekommen, da sich die Mühen auszahlen. “Where is the cash?” schreien sie. Wenn bis hierher überhaupt jemand die Zillionen Dollar verdient hat – nämlich für Dienste, geleistet in der unfruchtbarsten und unrockigsten Musiklandschaft schlechthin – dann eindeutig diese Scheißband Turbonegro…
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