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Sportfreunde Stiller + Anajo | Dienstag 30/10 2007 20.00 h Osnabrück, Stadthalle
| vvk: 26,10 € |
Anajo sind zur Stelle, wenn man die Welt nicht mehr versteht. Sie setzen der Ratlosigkeit die Kirsche auf - und alles, was auf den Magen schlägt, schmeckt plötzlich viel gesünder.
Ich weiß das. Im Herbst 2004 war mir gerade mal wieder die Liebe davongelaufen, und es hätte die Zunge eines Ochsen gebraucht, um diese Wunde zu lecken. Musik musste her. „Nah bei mir“, Anajos Debüt, empfahl sich schon qua Titel als Soundtrack meiner Nöte. Entgegen aller Erwartung erlebte ich keine dieser kammermusikalischen Träufeleien, die einen die Seele aus dem Leib flennen lässt. Wütende Töne? Fehlanzeige. Trotzdem vermochte diese Musik alles zu retten, was eine sterbende Liebe üblicherweise mit in den Tod reißt: den Tatendrang, den Humor und ein offenes Ohr für aufrichtende Worte. Bald konnte ich neuen Abenteuern und alten Nervensägen wieder strammen Hauptes begegnen. „Nah bei mir“ war rund, bunt und gut gelaunt wie die wassergefüllten Plastik-Boccia-Kugeln auf dem Cover; solche, mit denen ich 1972 die Quallen an Bulgariens Schwarzmeerstrand beworfen hatte. Ich fühlte mich sehr verbunden.
Jetzt ist das zweite Album da.
Ein bisschen später als geplant, Anajo machen es sich nicht so einfach wie sie klingen. Es ist wie mit jeder Kunst, die leicht wirkt: sie ist schwer zu vollbringen. Aber hier ist sie nun, Anajos Zweite: „Hallo, wer kennt hier eigentlich wen?“
Die Frage ereilt auch mich. Kennen wir uns? Was ich über Anajo sicher weiß: Sie kommen aus Augsburg und sind zu dritt. Oder zu viert? Sie heißen Oliver Gottwald (Gesang und Gitarre), Michael Schmidt (Bass und Tasten), Ingolf Nössner (Schlagzeug)und - unsichtbar, aber nicht wegzudenken - Alaska Winter, ihr Produzent seit der ersten Stunde.
Meine Berufung zum Anajographen verdanke ich einer wohlfeilen Bemerkung, die mir als kritischer Radioredakteur über die Lippen wich und der Band irgendwie passabel erschien. Anajo, so formulierte ich, sei die einzige Band in Deutschland, die die Disziplinen Satire, Surrealismus, Realromantik und lupenreine Popmusik gleichermaßen beherrscht
und darüberhinaus in der Lage ist, all das in ein mitreißendes Ganzes zu fügen. (Wer noch so eine Gruppe kennt - bitte melden!)
Ich kann es auch so sagen: In Anajo habe ich eine milde anarchische Freude wiederentdeckt, wie ich sie zuletzt auf Rio Reisers Soloalbum „Rio I.“ fand. Das war vor 20 Jahren. Der größte Unterschied ist, dass Anajo das Private dem Politischen vorziehen. Und dass sie sich die Eselsmütze besonders oft auch selbst aufsetzen.
„Hallo, wer kennt hier eigentlich wen?“ führt nahtlos fort, was „Nah bei mir“ begann. Auch deshalb ist es müßig, viele Worte über das neue Album zu verlieren. Das ist keine Musik, die man mal hört und sagt, ja, gefällt mir ganz gut. Wer an Anajo Gefallen findet, wird sie völlig verinnerlichen, das kommt ganz von alleine. Wie Grippe. In gesund. Ich erinnere
mich, wie meine Kollegen vor zwei Jahren alle vier Anajo-Songs mitsingen konnten, die im Programm rotierten (gleichzeitig! - das hat keine andere Band je geschafft, auch nicht aus Amerika): „Ich hol dich hier raus“, „Honigmelone“,
„Monika Tanzband“ und „Vorhang auf“ waren Hits im besten Sinne, und in Anbetracht von zehn weiteren großartigen
Nummern auf „Nah bei mir“ wussten wir, dass diejenigen, die Anajo übersehen, blind sind für Großes. Anajo sind auch nur Helden! Und nehmen prompt ein Mädchen mit aufs Zimmer: Suzie Kerstgens von Klee singt ein Stück mit.
Meine Favoriten auf „Hallo, wer kennt hier eigentlich wen““ sind „Hallo, wer kennt hier eigentlich wen?“, „Wenn du nur wüsstest“, „Herz Ass“, „Mein lieber Herr Gesangsverein“, „Franzi +2“. Und die übrigen acht Lieder.
Es gibt aber auch so genug Gründe, diese Band ins Herz zu schließen.
Grund genug: Oliver, Michael und Ingolf haben keine Angst vor Melodien, die mit Kitsch verschwägert oder verwandt sind. Manche Dinge kann man sich nicht aussuchen, sie sind einem mitgegeben. Die drei haben auch keine Not, sich darüber vielfach ironisch zu brechen und zu falten. Sie meinen es so! Sie meinen es ehrlich, mit uns, mit sich. Unter ihrer kirschrot süßen Musik dreht sich ein Strudel von traurigen Gestalten und lustigen Gesellen, voller vertrauter Gefühle
und seltsamer Sehnsüchte. Das Herz sagt: Ja, genau! Derweil der Verstand sich am Kopfe kratzt, so unbegreiflich
sind die Gedankensprünge in ihrer quirligen kleinen Welt.
Und weil sie auch die unsere ist, singen wir mit.
Grund genug: So wie Oliver singt, singt man eigentlich nicht. Und weil er es eben doch tut, gibt es keinen zweiten, der so glockenhell bübisch intoniert, stets überbetont, Vokale überdehnt (als riefe er einen Hund) und Silben verschluckt (weil er dem Takt hinterhechelt). Hinreißend!
Grund genug: Anajo wissen noch, was „Independent“ heißt. „Wir sind so dermaßen Indie, mehr Indie geht gar nicht. Wir machen immer noch alles selbst: Komponieren, Produzieren, Plattencover, Verstärker schleppen ...“ Überdies erklären sie die Ablehnung von Major-Angeboten (die es zwischenzeitlich zu Hauf gegeben hat) mit einer entwaffnend einleuchtenden Begründung, die sich jede große Plattenfirma an die Wand nageln und einrahmen sollte: „Wir sind lieber das Nummer-1-Thema eines kleinen Labels als die neue Nummer 26 eines Musikriesen.“ Das sitzt.
Grund genug: Anajo sind frei von fragwürdigen Attitüden. Abhold sind ihnen Rockstargetue, Künstlergehabe und Coolnessgemache.
Aber auch bierseliges Rumkumpeln ist ihre Sache nicht. Ein neckischer Plausch, ein gerstig Bierchen, das geht. Aber dann ziehen sie sich lieber leise zurück. Sie sind auf greifbare Art und Weise unnahbar. Für ihre Russlandtournee,
die sie im Herbst 2006 auf Einladung des Goethe-Instituts absolvierten, haben sie sich artig bedankt und überdies jede Aufregung vermieden und darauf verzichtet, die Reise wie den Besuch eines fremden Planeten zu feiern. Die Magie besonderer Abende ist selten vom Ort allein bestimmt.
Magie, Manieren, Melodie. Wer kennt Anajo?
Anajo sind nicht Deutschlands beste Band.
Anajo sind ein Glücksfall.
Autor: Markus Will
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